[이 정도면 논쟁이라기보다 거의 막말 수준이라 여겨지지만 그래도 한 재미 한다는..]
Fataler Tiefsinn aus Karlsruhe
Von Axel Honneth DIE ZEIT, 24.09.2009 Nr. 40
Was immer Peter Sloterdijk in den vergangenen beiden Jahrzehnten verfasst hat, schien weder mit dem herrschenden Zeitgeist noch mit dem von dessen Widersachern vereinbar. Von den forschen Befürwortern einer weiteren Ökonomisierung unserer Gesellschaft trennte ihn der Gestus eines grundsätzlichen Hinterfragens aller Errungenschaften der gesellschaftlichen Moderne, vom zögerlichen Einspruch der Kapitalismuskritiker unterschied ihn die stolze Zurückweisung jeder Parteinahme für die Schwachen und Benachteiligten. Ein kämpferischer Ton der Unangepasstheit sorgte gleichwohl dafür, dass ihm von vielen Seiten ehrfürchtige Bewunderung entgegenschlug: Endlich hatte hier, wie schon die Kritik der zynischen Vernunft (1983) zu signalisieren schien, erneut ein Freigeist die intellektuelle Bühne betreten, der es mit der einsamen Entschlossenheit und Radikalität eines Nietzsche mit all den Denkgewohnheiten aufnahm, die unserer Epoche schon lange eine kaum zu ertragene Fadheit verliehen hatten.
Wo dieses Kalkül einmal danebenging, weil Sloterdijk moralisch gut begründete Prinzipien verletzt hatte, da wurden von ihm schnell Nebelkerzen hinterhergeschossen, die das Ungeheuerliche nur noch weiter verdunkelten und ins grandios Ungedachte steigerten. Schwer war es im Verlauf der Jahre daher, dem moralisch-politischen Charakter des Sloterdijkschen Denkens auf die Schliche zu kommen. Diesem Katz-und-Maus-Spiel, in dem die Feuilletons unserer Zeitungen eine unrühmliche Rolle spielten, hat Peter Sloterdijk kürzlich selbst ein Ende gesetzt. In einem Artikel, den er für die FAZ verfasst hat, plauderte er aus, welcher historischen Entwicklung seine geschichtsphilosophische Sorge tatsächlich gilt. Dass dem nachgeahmten Nietzscheanismus der Ressentimentkritik seinerseits ein Ressentiment zugrunde liegt, mag man schon immer vermutet haben; aber dass dieses nun auf so kleingeistige Weise wie in diesem Beitrag daherkommt, muss einem schier die Sprache verschlagen.
Die Beliebtheit der philosophischen Essayistik des Peter Sloterdijk hing von Anfang an mit dem Aufstieg eines sozialen Milieus zusammen, das den kulturellen Erscheinungen des kapitalistischen Wohlfahrtsstaats nur Verachtung entgegenbrachte, ohne aber für die politische Gestaltung der Zukunft irgendeine tragfähige Idee zu besitzen. In ihrer akademischen Jugend, die zumeist in die Jahre der Maueröffnung und des Zusammenbruchs der Sowjetunion fiel, hatten die Vertreter dieser neuen Elite die Schriften von Michel Foucault gelesen, waren aufgrund ihrer ungebundenen, elastischen und sprungbereiten Geisteshaltung schnell zu allen erdenklichen Machtpositionen gelangt, wo sie nun saßen, um auf einen Einfall oder ein klärendes Wort zur Signatur unserer Epoche zu warten. In diesem Milieu, den Redaktionsstuben der Feuilletons, den Kasinos der Banken, den Architekturbüros und Werbeagenturen, herrschte Einigkeit nur darüber, dass der Wohlfahrtsmentalität des sozialdemokratischen Zeitalters unbedingt ein Ende zu bereiten sei; zu abhängig schienen die Massen, zu sehr nur auf die gebende Hand des Staates erpicht, als dass aus dem Schoß einer derartigen Kultur noch irgendein kraftvoller Gedanke oder Lebensstil hervorgehen könnte.
Die Verachtung galt freilich weniger den bedürftigen Schichten selbst als vielmehr deren intellektuellen Repräsentanten, die sich in der »alten« Bundesrepublik angemaßt hatten, als allgemeine Fürsprecher einer Umverteilungspolitik aufzutreten. Mit Begeisterung las man jeden Artikel, der zur Verteufelung der 68er-Bewegung geschrieben wurde, mit tiefer Genugtuung nahm man zur Kenntnis, dass es mit der Soziologie und der Psychoanalyse nun endlich den Leitdisziplinen der untergehenden Epoche an den Kragen gehen sollte. Das erlösende Wort durfte nicht von derselben Art sein wie jene klagende Rede, die die alten Ideologen im Namen der sozial Schwachen und Entrechteten vorgetragen hatten; es musste wieder Mut zur geistigen Größe besitzen und Distanz zum Jargon der sozialen Verelendung bewahren.
Allzu lang mussten die Repräsentanten dieser neuen Schicht nicht ausharren, weil ihnen schon bald ein Autor entgegentrat, der für all ihr Hoffen und Bangen die richtige Rezeptur in den Händen hielt. Ganz am Anfang seiner intellektuellen Entwicklung mag Peter Sloterdijk noch unentschieden gewesen sein, ob er eher den Weg einer philosophisch inspirierten Gesellschaftskritik oder den einer mystisch-spekulativen Welt- und Geschichtsdeutung einschlagen sollte; erst der schnelle Erfolg, den ihm seine ersten Bücher in jenen erlösungshungrigen Milieus einbrachten, dürfte ihn schließlich dazu bewogen haben, sich deren Jüngern als Seher in dürftiger Zeit anzudienen. An der Kraft zur Schöpfung welterschließender Begriffe und Metaphern fehlte es ihm nicht, auch eine gewisse Fähigkeit zur diagnostischen Zusammenschau war ihm gegeben, sodass alle geistigen Voraussetzungen erfüllt waren, um die ins Auge gefasste Aufgabe tatkräftig in Angriff zu nehmen. Seither entspringen dem produktiven Geist Sloterdijks jährlich eine Reihe von Essays, Büchern und Reden, die von den Angehörigen der ihm ergebenen Schicht, wenn nicht gelesen, so doch durchblättert werden.
Gewiss, die dreibändigen Sphären waren des Umfangs zu viel, um sie sich Seite für Seite auch nur zur Ansicht zu bringen; hier reichte die Kenntnisnahme der schwermütigen These, dass wir alle schon im intrauterinen Zustand ein Gefühl der räumlichen Geborgenheit entwickeln, für welche wir, einmal zur Welt gebracht, dann keinen hinreichenden Ersatz mehr finden. Dieser poetische Philosoph war unzufrieden mit den Umständen in anderer Weise, als es die schnöde Gesellschaftskritik der Alten gewesen war; der kritische Einwand galt nicht der institutionellen Einrichtung unseres Gemeinwesens, nicht dem Mangel an sozialer Gerechtigkeit, sondern der Dürftigkeit einer ganzen Kultur, die den harten Gegebenheiten unseres Daseins nicht ins Angesicht zu schauen wagte. Der methodische Zugang, den sich Sloterdijk zu diesen Tatsachen des sozialen Lebens verschaffte, war allerdings alles andere als von philosophischer Raffinesse; so, als habe es Foucaults Einwand gegen den anthropologischen Essenzialismus nie gegeben, so, als seien alle Warnungen vor der Behauptung kultureller Universalien und menschlicher Invarianten in den Wind zu schlagen, ging Sloterdijk schlicht davon aus, dass es bei genauerem Hinsehen eine Reihe von unvermeidlichen Triebkräften im zivilisatorischen Geschehen zu entdecken gäbe. Auf seinem Weg ins Verheißung suchende Milieu schien der Autor alles vergessen zu haben, was er ursprünglich, etwa in einem frühen, glänzenden Aufsatz zu Foucault, selbst einmal geschrieben und gedacht hatte, sodass er nun frei war, eine Art von intuitiver Wesensschau zu betreiben. Um die Schriften des Autors hatte sich in nur wenigen Jahren ein Kokon aus Verehrung, Faszination und schelmischer Sympathie gelegt, an dem vom postmodernen Rundfunkredakteur bis zum alternden Goethe-Instituts-Direktor viele munter webten: Endlich war da jemand der argumentativ überpeniblen, in sich selbst kreisenden Sozialkritik entgegengetreten, hatte deren Fixierung auf die nur mediokren Werte der Gleichheit oder Gerechtigkeit bloßgestellt und uns einen ersten Eindruck von den viel tiefer liegenden, wahrhaften Kräften geschichtlicher Zusammenstöße vermittelt.
Allerdings waren auch nach dieser ersten Staffel von Schriften die erlösenden Worte, auf die das zum Meister hochblickende Milieu so begierig wartete, noch nicht gefallen. Sloterdijk hatte in seiner Wesensschau zwar inzwischen die unterschiedlichsten Sachverhalte zutage gefördert, war unerschrocken dem heimlichen Sinn all unseres gentechnischen Experimentierens auf die Schliche gekommen und der ehernen Triebökonomie des Politischen nachgegangen, aber der unter den Nägeln brennenden Frage nach dem sozialen Antagonismus unserer Tage hatte er seine Aufmerksamkeit noch nicht gewidmet. Wie als könne er sein Publikum nicht länger dürsten lassen, machte sich Sloterdijk daher bald nach der Jahrhundertwende daran, unter dem wuchtigen Titel Zorn und Zeit (Suhrkamp Verlag) eine »politisch-psychologische« Analyse der Kämpfe im gegenwärtigen Zeitalter zu verfassen. Wieder ist der methodologische Leichtsinn, mit dem dabei verfahren wird, atemberaubend, eine bloße Rückerinnerung an die angebliche Trieblehre der Antike soll ausreichen, um uns mit dem notwendigen Rüstzeug einer solchen Gegenwartsdiagnose auszustatten.
Der psychologischen Auffassung der Griechen zufolge, so will uns Sloterdijk ohne jede Kenntnisnahme der neueren Forschungsliteratur weismachen, sei der Mensch neben seinem erotischen Verlangen mindestens ebenso stark von einem »Streben nach Erfolg, Ansehen, Selbstachtung« beherrscht; diese »thymotischen Energien«, von der Neuzeit mit der Ausnahme einiger großer Denker ignoriert und von der Psychoanalyse endgültig aus unserem Selbstverständnis verbannt, bildeten den eigentlichen Grundstoff aller politischen Zusammenstöße, weil es in ihnen letztlich nämlich immer um die kollektive Rückeroberung von »Stolz« und »Ehre« ginge. Man will gar nicht erst beginnen, schon hier auf eine gewisse begriffliche Differenzierung zu drängen, besteht doch ein großer Unterschied darin, ob jenes Verlangen auf die Zustimmung des Gegenübers zielt oder sich gerade darüber hinwegsetzen will, also nach intersubjektiver Anerkennung oder nach vermittlungsloser Selbstermächtigung strebt; auch scheint es wenig ergiebig, an dieser Stelle darauf hinzuweisen, dass so unterschiedliche Theoretiker wie George Sorel oder Barrington Moore schon viel früher auf die Schlüsselrolle der »Ehre« in der Motivierung politischer Bewegungen aufmerksam gemacht haben. Alles das schert Sloterdijk wenig, denn er will auf Wichtigeres hinaus, etwas, das uns in unserem gegenwärtigen Selbstverständnis elementar erschüttert. Wir lernen weiter, dass das Gegenstück zum Stolz, über den die im »Kampf um Anerkennung« (Sloterdijk) Überlegenen verfügen, das Ressentiment derjenigen ist, die von nun an einen untergeordneten Rangplatz in der gesellschaftlichen Statushierarchie einnehmen müssen; um die Schmach dieser Subordination abzuschütteln, werden von hier unten aus moralische Werte der Selbstbeschränkung und der Gleichbehandlung in die Welt gesetzt, in deren Licht die Mitglieder der zum Erfolg gelangten Schichten als Versager dastehen müssen. Insofern besteht das zivilisatorische Geschehen, wie es in bloßer Wiederholung von Nietzsche heißt, in nichts anderem als den immer gleichen Auseinandersetzungen zwischen lebensbejahenden und lebensfeindlichen Gruppierungen, zwischen Kollektiven, die in Stolz ihr Dasein genießen, und solchen, die jenen ihre Vitalität zu verleiden versuchen.
Die einzig originelle Wendung, die Sloterdijk dieser altbekannten Doktrin verleiht, ergibt sich nun aus dem gegen Nietzsche gerichteten Gedanken, dass in den vergangenen zweihundert Jahren die christliche Ethik den Schwachen gerade nicht ein Instrument ihres Ressentiments und Rachefeldzugs habe sein können; denn die im jüngeren Christentum überlieferten Werte und Normen seien von einer derart »humanitär-übersinnlichen« Art gewesen, dass sie den Ansatzpunkt für eine ideelle Attacke gegen die Privilegierten und Begüterten keinesfalls hätten bieten können. Also bedarf es nach Sloterdijks Auffassung einer »noch tiefer ansetzenden Reflexion«, um aus dem verschwommenen Dunkel der vergangenen Kämpfe erfolgreich die Werte ans Licht zu zerren, die den »Ressentimentbewegungen« des 19. und 20. Jahrhunderts tatsächlich als Mittel ihrer verschlagenen Revanche haben dienen können – und man ahnt schon, dass jetzt die Schlüsselparole nicht mehr allzu fern ist, auf die die deutungshungrige Gemeinde schon so lange wartete.
Um es kurz zu machen: Nach Sloterdijk sind diese moralischen Werte und Normen diejenigen, die sich die Gleichheitsfanatiker der unterschiedlichsten Couleur auf die Fahnen geschrieben haben, um mit deren Hilfe die Massen zur Attacke auf die bestehenden Verhältnisse zu bewegen. Was hier unter solchen Gleichheitsforderungen verstanden werden soll, bleibt im Ganzen ziemlich unklar, gemeint sind im historischen Prozess aber alle »nationalistischen« und »internationalistischen« Bewegungen, nur dass die ersten soziale Gleichheit ausschließlich für die jeweils nationale Bevölkerung eingeklagt haben, während sie die zweiten für alle Erdenbürger und -bürgerinnen zu reklamieren versuchten. Von hier aus ist es nicht weit zu der Behauptung, dass die weltgeschichtlichen Katastrophen des 20. Jahrhunderts durch den Aufstand von zwei »Zornkollektiven« angezettelt wurden, in denen Intellektuelle, die neuen »Weltgeistlichen des Hasses«, den aus Beschämung und Geringschätzung entstandenen Zorn der Massen durch moralisch-humanistische Parolen gegen die Eliten zu organisieren wussten. Irgendwie meint man das alles schon zu kennen, glaubt, ein Amalgam aus Gehlen und Ernst Nolte vor sich zu haben, nur dass die Gleichsetzung von Faschismus und Sozialismus und deren gemeinsame Rückführung auf Motive der Gier und des Ressentiments hier hemdsärmeliger, ja protziger daherkommt.
Selten wohl ist vergangenes Gedankengut, das schon zu seiner Zeit nur dumpfe Ängste und Abwehrhaltungen verriet, mit so viel Aplomb wieder aufgefrischt worden, um es als neuestes Stichwort zur geistig-politischen Lage der Gegenwart auszugeben. Gegen Gehlens Moral und Hypermoral , aus der einige der zentralen Verbindungsglieder in Sloterdijks Argumentation zu stammen scheinen, ist schon vor vierzig Jahren eingewandt worden, dass die Gleichsetzung einer um Werte der nationalen Ehre und Solidarität kristallisierten Binnenmoral mit dem moralischen Universalismus des »Internationalismus« übersieht, mit welch unterschiedlicher Absicht sich jeweils auf »Gleichheit« berufen wurde: Während dort die im Inneren erstrebte Egalität aller Angehörigen derselben nationalen Herkunft nur die moralische Kehrseite der nach außen gerichteten Bekämpfung des gemeinsamen Feindes war, fällt hier zumindest der Idee nach jeder polemische Bezug auf eine äußere Gruppierung weg, weil alle Mitglieder der Menschheit in den Genuss gleicher Rechte kommen sollen. Die Wertsysteme des Nationalismus und des Internationalismus stellen daher nicht, wie Sloterdijk uns mit Gehlen glauben machen möchte, zwei Seiten ein und desselben humanistischen Gleichheitsideals dar, sondern bilden unterschiedliche Stufen in der Entwicklung der Sozialmoral.
Nicht besser ist es um Sloterdijks These bestellt, derzufolge die moralische Wut und Empörung der sozial benachteiligten Massen nur mit Motiven eines gegen die Privilegierten gerichteten Ressentiments zu erklären seien; hier fragt man sich, warum der Umweg über eine solche Trivialpsychologie genommen werden muss, wenn doch die politischen Verfassungen westlicher Demokratien die Betroffenen geradezu dazu auffordern, von dem begründeten Anspruch auf rechtliche Gleichbehandlung Gebrauch zu machen. Im Kampf gegen soziale Diskriminierung und ökonomische Benachteiligung versuchen die jeweiligen Akteure nur umzusetzen, was ihnen die moralischen Prinzipien des modernen Rechtsstaates versprechen; dazu ist keine Gier nötig, kein Neid und kein Ressentiment. Natürlich steht es jedem Autor frei, beliebig auf Gedankenmotive der Vergangenheit zurückzugreifen. Aber es bedeutet, Normen der intellektuellen Redlichkeit zu verletzen, wenn dabei das Alte als das Allerneueste ausgegeben wird, nur um sich die Diskussion der längst vorgebrachten Gegenargumente zu ersparen.
Nun stellen die bislang wiedergegebenen Spekulationen für unseren Autor offenbar nur philosophische Lockerungsübungen dar, die jenen politischen Faustschlag vorbereiten helfen sollten, zu dem er dann am 10. Juni 2009 in der FAZ endlich ausgeholt hat. Aus der »politisch-psychologischen« Einsicht in die ewige Wiederkehr des Kampfes zwischen den zu Recht Privilegierten und den neidvoll Schlechtergestellten muss doch irgendwann einmal die Konsequenz gezogen werden, das ungute Treiben wenigstens für einen historischen Augenblick lang stillzustellen; dafür kann es nach geschichtsphilosophischem Maß nur die Lösung geben, den Bessergestellten endlich das zu geben, was sie wirklich verdienen, um ihnen derart die Chance zu stolzen, freiwilligen Geschenken nach unten zu gewähren. Die politische Parole für dieses Programm lautet, man glaubt es kaum, »Steuerstreik«.
Aus einsamer Höhe verkündet Sloterdijk die lang ersehnten Parolen zur politischen Gestaltung der Zukunft, Parolen, in denen dem rührseligen Traum vom Sozialstaat endlich der Garaus gemacht wird. Sloterdijk knüpft an einige Überlegungen an, die er schon in Zorn und Zeit angestellt hatte, um aus der Lehre von den unserer Zivilisation zugrunde liegenden Energien des Stolzes und der Selbstachtung die Konsequenzen für eine Neuorganisation unserer kapitalistischen Wirtschaft zu ziehen; unter dunkler Berufung auf Georges Bataille war dort die Rede davon gewesen, dass die Reichen und Begüterten nur dann die ihnen kulturell auferlegte »Selbstverachtung« abschütteln könnten, wenn sie in einer »Ökonomie des Stolzes« ihr Vermögen in »schönen Handlungen« der freiwilligen Beschenkung nach unten an die Bedürftigen verteilen würden. Das sollte im Klartext so viel heißen wie, dass jede staatliche Pflicht zur Abgabe vom eigenen Reichtum diesen Besitzern nur eine Kränkung des Gefühls wohlverdienten Erfolgs bereite, während dessen souveräne Verausgabung bei den Mitgliedern jener Schichten eine Empfindung beglückender Großherzigkeit auslöse. Hier machte sich jemand, so viel ist klar, sehr ernsthaft Gedanken darüber, wie es in Zeiten einer wachsenden Schere zwischen Arm und Reich um die von der »miserabilistischen« Linken vernachlässigte Seite bestellt ist; genug der Klage über die wachsende Zahl der Arbeitslosen, genug auch der trostlosen Beschäftigung mit dem Leben da unten, ist es nicht viel erbärmlicher und schmachvoller, auf Teile seines selbst verdienten Vermögens unter sozialstaatlichem Zwang verzichten zu müssen!
Diese unausgegorenen Überlegungen, in denen an keiner Stelle geklärt wird, warum ein etwa durch Vererbung oder finanzielle Spekulationen erworbenes Vermögen im Sinne irgendeiner Leistung rechtmäßig »verdient« sein soll, liefern Sloterdijk in seinem Artikel nun die Grundlage für eine politische Programmatik revolutionären Zuschnitts. Mit dem Mut des Freidenkers prüft Sloterdijk, mit welchen Mitteln die historischen Gewinner, die Reichen und Vermögenden, dem grausamen Spiel der stets wachsenden Beschämung ihrer Leistungen ein Ende setzen könnten; das Ergebnis dieses In-sich-Gehens des Autors stellt der Artikel Die Revolution der gebenden Hand dar.
Schon der Titel des kurzen Beitrags soll deutlich machen, dass hier jemand über nichts Geringeres nachdenkt als über einen Umsturz all unserer herkömmlichen Werte und Gepflogenheiten; mit einer bloßen Reparatur der gegebenen Gesellschaftsordnung ist es für Sloterdijk nicht getan, wenn so Großes auf dem Spiel steht wie die elende Lage der herrschenden Klassen. Diese könnten sich ihrer beschämenden Situation nur erwehren, so argumentiert Peter Sloterdijk, wenn sie zu politischen Mitteln der Gegenwehr griffen, die den Grund ihrer Beschämung aus dem Weg zu räumen vermöchten; und dieser Grund, die Wurzel allen Übels ist, wie wir weiter lesen, in nichts anderem zu vermuten als der bloßen Existenz des Sozialstaates, jener gigantischen Wohlfahrtseinrichtung, mit deren Hilfe sich die Benachteiligten im Schulterschluss mit den moralisierenden Intellektuellen an den Vermögenden schadlos hielten – so zentral ist Sloterdijk diese Einsicht, so wichtig das damit verknüpfte Anliegen, dass er den »Steuerstaat« ein wenig zusammenhanglos auch in seinem neusten Buch Du musst dein Leben ändern ( Suhrkamp Verlag) wieder zur Erwähnung bringt, wo er unter Verweis auf Friedrich August von Hayek als »real existierender liberal-fiskalischer Semi-Sozialismus« bezeichnet wird.
Man muss auch das damit angedeutete Argument erst mehrmals in Augenschein nehmen, bevor einem dämmert, welche verschrobene These da mit Nonchalance in die Welt gesetzt wird: der Sozialstaat, in Deutschland das Produkt der von oben durchgeführten Reformen Bismarcks, in England oder Frankreich das Resultat erbitterter Kämpfe der Arbeiterbewegung, soll nichts anderes hervorbringen als eine institutionalisierte »Kleptokratie«, eine politische Einrichtung also, die die Schlechtergestellten erfolgreich hätten etablieren können, um sich von den Vermögenden finanziell anzueignen, was sie in blindem Ressentiment für unrechtmäßig erworben hielten. Eine kleine Rückerinnerung reicht aus, um die damit entwickelte Behauptung als baren Unsinn zu erkennen, der sich einer Mischung aus historischer Ignoranz und theoretischer Chuzpe verdankt.
Bei ihren kollektiven Bemühungen, Maßnahmen der ökonomischen Umverteilung durchzusetzen und auf diesem Weg soziale Rechte zu erkämpfen, konnten sich die wirtschaftlich schlechter gestellten Schichten während der kapitalistischen Industrialisierung von Anfang an auf zwei verschiedene Quellen der moralischen Legitimierung stützen: Zum einen sprang ins Auge, dass das rasch wachsende Geldvermögen von Teilen der bürgerlichen Klasse nur in geringem Umfang mit eigenen Leistungen und Anstrengungen, in viel größerem Maße aber mit dem Zufall der familialen Herkunft und den enormen Erträgen aus unproduktivem Eigentum zu tun hatte; warum aber sollte es denjenigen, die bloß glückliche Umstände in die Lage zur Vermehrung ihres Reichtums versetzt hatten, so viel besser gehen als den Schichten, deren Mitglieder mit produktiver Arbeit tagtäglich zur Erhöhung des Volkseinkommens beitrugen? War es somit auf der einen Seite die Berufung auf das vom Bürgertum selbst propagierte Leistungsprinzip, was den lohnabhängigen, häufig verarmten Schichten als moralische Grundlage ihres Kampfes für Umverteilungen dienen konnte, so auf der anderen Seite die konsequente Auslegung der in den demokratischen Verfassungen verbrieften Bürgerrechte: War darin nicht allen Mitgliedern der neu entstehenden Gesellschaften zugesichert worden, als Gleiche unter Gleichen angesehen und behandelt zu werden, sodass mit Fug und Recht solche sozialen Bedingungen erstritten werden durften, unter denen jeder Bürger die gleichen Chancen zur Teilnahme am gesellschaftlichen Leben besitzen würden?
Kein Ressentiment war hier nötig, um es zu wiederholen, kein Neid und keine Gier, um die Angehörigen der schlechter gestellten Schichten dazu zu motivieren, sich für eine ökonomische Umverteilung von oben nach unten einzusetzen; einzig eine resolute Applizierung der bereits etablierten, vom Bürgertum mitvertretenen Prinzipien auf die herrschenden Umstände war erforderlich, um die Konzentration von ökonomischen Vermögen in den Händen weniger als »Unrecht« zu erfahren und sich dementsprechend zu einer moralischen Gegenwehr aufgefordert zu sehen. Die ganze Idee, dass es dazu erst noch des zusätzlichen Anstoßes durch ein Gefühl des Ressentiments bedurft habe, war von Anfang an die intellektuelle Ausgeburt eines Klassenkampfs von oben. Sie wird nicht besser dadurch, dass sie in Zeiten verschärfter Sozialkonflikte regelmäßig wiederholt wird, und auch dann nicht glaubwürdiger, wenn ihr willfährige Intellektuelle wie Sloterdijk wortmächtig den Segen erteilen.
Mit der Charakterisierung des Sozialstaats als einer institutionalisierten »Kleptokratie« ist Sloterdijk jedenfalls an den Punkt seiner Argumentation gelangt, an dem er nun glaubt, erste politische Handlungsanweisungen geben zu können. Wenn der Sozialstaat als ein reines Instrument des Neids der unteren Klassen von den »produktiven Schichten« immer mehr an steuerlichen Abgaben verlange, wenn er sich gar, wie in den letzten Jahrzehnten, zu einem »geldsaugenden und geldspeienden Ungeheuer« entwickelt habe, dann sei es Sloterdijk zufolge an der Zeit, die Angehörigen der derart ausgebeuteten Eliten zur Überwindung ihrer andressierten Selbstverachtung aufzufordern; und also ergeht über unser Land der Schlachtruf an die Vermögenden und Reichen, endlich zu den ihnen zu Gebote stehenden Waffen zu greifen und einen »antifiskalischen Bürgerkrieg« zu eröffnen, um wieder zu einem Leben in Stolz und beglückender Selbstachtung zurückzufinden.
Dem befreienden Lachen, das eine solche Kampfparole aufgrund ihres Aberwitzes, ihres geradezu atemberaubenden Leichtsinns auslösen könnte, steht nur der Gedanke entgegen, dass es sich dabei um die Sätze eines von den Medien geliebten, von der politischen Öffentlichkeit verehrten und von den Akademien hochdekorierten Intellektuellen handelt. Es fällt einem wieder ein, dass sich ein SPD-, nicht ein FDP-Landesverband noch vor Kurzem mit einem Vortrag dieses Autors schmückte, es kommt einem in den Sinn, dass er im ZDF eine »philosophische« Diskussionsrunde moderiert – nur wenige mag es geben, die da nicht in ein Grübeln darüber verfallen, ob unsere demokratische Kultur nicht inzwischen einen Grad an Verspieltheit, an Ernstlosigkeit und Verquatschtheit erreicht hat, der ihren eigenen Ansprüchen Abbruch tut.
Axel Honneth
Er ist Professor für Philosophie an der Goethe-Universität Frankfurt am Main und seit 2001 Direktor des dortigen Instituts für Sozialforschung, der in den zwanziger Jahren gegründeten »Geburtsstätte« der Kritischen Theorie. Einer breiteren Öffentlichkeit bekannt wurde Honneth mit seinem Buch »Kampf um Anerkennung« (Suhrkamp Verlag), das an den jungen Hegel und den amerikanischen Pragmatisten George Herbert Mead anknüpft. Honneths Philosophie zielt auf eine Kritik an den sozialen Verwerfungen moderner Gesellschaften; ihre Themen sind »Entfremdung«, »Verdinglichung« und »Anerkennungsvergessenheit«. Axel Honneth veröffentlichte zuletzt (zusammen mit Beate Rössler) die Studie »Von Person zu Person. Zur Moralität persönlicher Beziehungen«. Zu seinem 60. Geburtstag (ZEIT Nr. 30/09) erschien – ebenfalls bei Suhrkamp – eine 700 Seiten starke Festschrift mit Beiträgen unter anderem von Nancy Fraser, Eva Illouz, Luc Boltanski, Charles Taylor und Michael Walzer.
Sloterdijk antwortet
Das elfte Gebot: die progressive Einkommenssteuer
27. September 2009 Liebe Kollegen, haben Sie Dank für die Zusendung der Attacke des Frankfurter Philosophieprofessors Axel Honneth, der meinen Aufsatz in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ vom 10. Juni („Die Revolution der gebenden Hand“) zum Anlass nimmt, über meine philosophische und schriftstellerische Arbeit im ganzen den Stab zu brechen. Sie nennen den Vorgang einen „scharfen Angriff“, und ich ahne, was Sie meinen, obschon ich in dem, was vorgebracht wird, mehr Dumpfheit als Schärfe zu beobachten glaube.
In dieser Situation schlagen Sie etwas vor, was unter günstigen Bedingungen zu einer erkenntnisfördernden Auseinandersetzung vor großem Publikum führen könnte: Eine Erwiderung des Angegriffenen auf die Vorwürfe des Kontrahenten und eine Einladung weiterer Diskutanten zu einer „großen Debatte“. Im Prinzip wäre gegen ein solches Verfahren nichts einzuwenden - die Gleichheit der Waffen und die Fairness bei der journalistischen Präsentierung vorausgesetzt.
Leider sind die Prämissen für eine solche „Kontroverse“ im aktuellen Fall nicht gegeben. Das Publikum der „Zeit“ kennt ja größtenteils den inkriminierten Artikel nicht - dieser hätte also fürs erste fairerweise nochmals vollständig abgedruckt werden müssen, damit die Leserschaft Ihrer Zeitung eine Chance erhielte, zu erfahren, wovon die Rede ist. Alles andere kann nur zu einer Fortsetzung des Schattenboxens führen, das der „Zeit“-Artikel vom 24. September mit einigen kuriosen Schlägen in die Luft eröffnet.
Aus meiner Sicht steht eines von vorneherein außer Zweifel: Wenn ein Aufsatz wie der genannte auf der einen Seite derart lebhaften Applaus erhält, wie er zu beobachten war, und auf der anderen so heftig angefeindet und verzerrt wird, wie die Attacke des Philosophieprofessors es vorführt, dann muss er einen extrem empfindlichen Punkt berührt haben. Vermutlich sind Fragen des Nehmens und Gebens - neben der Sexualität - die sensitivsten Angelegenheiten, die überhaupt vor Publikum verhandelt werden können. Es sind die Fragen, die unverkennbar die thymotischen (die stolzhaften, die zornhaften und die ressentimenthaften) Leidenschaften aufwühlen - Affekte, denen ich in meinem Buch „Zorn und Zeit“ einigermaßen umfangreiche Überlegungen gewidmet habe.
Weltgeschichtlich beispielloses System der Umverteilung
Ich stelle noch einmal in Kürze dar, worauf mein aktueller Aufsatz im Rahmen der Krise-des-Kapitalismus-Debatte der F.A.Z. hinaus wollte: Der moderne Steuerstaat hat das Zeitalter der einseitigen Plünderung der Armen durch die Mächtigen beendet - eine Tatsache, die schlechthin niemand auf der Welt bedauern dürfte. Der Proudhonsche Satz: „Eigentum ist Diebstahl“ hatte die alte Ordnung der Dinge polemisch auf den Begriff gebracht. Seither hat die politische Moderne ein weltgeschichtlich beispielloses System der Umverteilung erarbeitet, in dem der zugleich liberale und soziale Staat sich Jahr für Jahr rund die Hälfte aller Wertschöpfungsergebnisse der wirtschaftenden Gesellschaft aneignet und diese nach Maßgabe seiner Funktionen und Pflichten neu verteilt - in der BRD macht die Abschöpfungsmasse seit dem Jahr 2.000 regelmäßig eine Summe von etwa 1.000 Milliarden Dollar aus. Der „nehmende Staat“ beruft sich - zumindest auf dem linken Parteienspektrum - noch heute auf die Überzeugung, dass gegen den ungerechten primären Diebstahl nur ein korrigierender gerechter Gegendiebstahl Abhilfe schafft: Marxistisch heißt diese Prozedur seit dem neunzehnten Jahrhundert „Expropriation der Expropriateure.“
Mein Aufsatz nimmt gegenüber dieser Entwicklung eine bedingungslos bejahende Perspektive ein. Seit Jahren werde ich nicht müde, auf einschlägigen Konferenzen meine Überzeugung zu bekennen, dass die progressive Einkommenssteuer die maßgeblichste moralische Errungenschaft seit den Zehn Geboten darstellt. Weil ich die Denkfigur des Gegendiebstahls wichtig, um nicht zu sagen: epochal bedeutsam finde (sie hat von Rousseau über Marx und Lenin bis hin zu Steinbrück Geschichte gemacht), verwende ich für sie gelegentlich auch das provozierende Wort „Kleptokratie“ - ein Ausdruck, der geeignet ist, Habende und Nichthabende aus ihrem dogmatischen Schlummer zu wecken.
Ein Plädoyer für die Umstellung von Enteignung auf Spende
Als unverbesserlicher Verteidiger einer sozialdemokratischen (oder wie ich der Deutlichkeit zuliebe sage: semi-sozialistischen) Logik habe ich nur einen einzigen, allerdings schwerwiegenden Einwand gegen die bestehenden Verhältnisse vorzubringen: Ich nehme daran Anstoß, dass niemand das aktuelle System der Zwangsbesteuerung als solches in Frage stellt - auch wenn man hin und wieder über die „Vereinfachung“ der Besteuerungsverfahren und über deren Reform im Sinne der „sozialen Gerechtigkeit“ diskutiert. Nirgendwo wird auch nur hypothetisch darüber nachgedacht, ob es nicht besser insgesamt durch eine geregelte Praxis der öffentlichen Spenden zu ersetzen wäre. Tatsächlich endet mein Aufsatz mit dem Aufruf zu einem moralisch und politisch anspruchsvollen Gedankenexpriment: Angenommen, der moderne Staat brauchte tatsächlich genau die Summen, die er heute durch Zwangssteuern eintreibt: So soll er sie erhalten.
Jedoch: Wäre es dann nicht viel würdevoller und sozialpsychologisch produktiver, dieselben Beträge würden nicht durch fiskalische Zwangsabgaben aufgebracht, sondern in freiwillige Zuwendungen von aktiven Steuerbürgern an das Gemeinwesen umgewandelt? Würde man nicht erst nach dieser Umstellung von Enteignung auf Spende wirklich von einer Zivilgesellschaft sprechen dürfen, in der die Bürger mit dem Gemeinwesen durch eine permanente Selbstüberwindung und eine stetige Bestätigung des Etwas-Übrig-Habens fürs Allgemeine und Gemeinsame verbunden sind? Würde nicht erst durch eine solche Veränderung die Wende von einer gierbeherrschten zu einer stolzbewegten Gesellschaftsform bewirkt, von der so viele Kritiker der bestehenden Verhältnisse - gerade auch im linken Spektrum - zu träumen schienen? Was soll überhaupt aus einer Linken werden, die exklusiv an den Begriffen „Enteignung“ und „Besteuerung“ klebt und der zu einer Ethik der Gabe schlechterdings nichts einfällt?
Lesen wir vor diesem Hintergrund das Referat des Philosophieprofessors, dem Ihre Zeitung zwei volle Seiten zur Verfügung gestellt hat, damit er die Ergebnisse seiner Befassung mit meinem Aufsatz dem Publikum vermittle! Was lesen wir? Da steht, ob man seinen Augen traut oder nicht, tatsächlich Folgendes: Der Verfasser des F.A.Z.-Aufsatzes rufe die Wohlhabenden zum „antifiskalischen Bürgerkrieg“ auf! Da steht: Der gute Mann, dessen Ansichten bedauerlicher viele interessant finden, habe seinen Kredit jetzt endgültig überzogen, ja, man habe Grund, sich über den Zustand der Demokratie Sorgen zu machen, solange unseriösen Stimmen wie dieser überhaupt Aufmerksamkeit geschenkt wird.
Eine auf den Kopf gestellte Grundaussage
Das Verfahren, das unser Professor für seine Auslassungen wählt, ist gewiss nicht neu: Er erfindet eine abstruse These, um sich über sie aufregen zu können - und indem er seine Hysterie exhibiert, wünscht er, eine möglichst große Zahl von Uninformierten in seine Aufgeregtheit mitzunehmen. Üblicherweise funktioniert so etwas hierzulande ziemlich gut, bevor eine genauere Lektüre zur Entzerrung des Geschehens führt.
Nun kann ich Ihnen, liebe „Zeit“-Redaktion, mit einfachen Worten erklären, warum ich an einer „Debatte“, wie Sie sie vorschlagen, nicht teilnehmen kann. Zu einer Debatte gehören Kenntnisse - in unserem Fall wären dies ausführliche Lektüren in den Schriften des Kontrahenten. Wenn aber unser aufgeregter Philosophieprofessor nicht fähig und nicht willens ist, einen Aufsatz von zehn, zwölf Seiten nach den Regeln der Kunst zu rezipieren, ohne gröbste Verzerrungen vorzunehmen, ja, ohne die Grundaussage auf den Kopf zu stellen, dann hat es von vorneherein keinen Sinn, mit ihm über den Unterschied zwischen seinem und meinem „Modus des Philosophierens“ zu reden.
Ein Lektürerückstand von achttausend Seiten
Die Wahrheit ist doch, unser Professor hat in Bezug auf meine Arbeit einen Lektüre-Rückstand von, freundlich geschätzt, sechstausend bis achttausend Seiten - was sinngemäß besagt, dass er wahrscheinlich weniger als zehn Prozent meiner Publikationen kennt, möglicherweise nicht einmal so viel und selbst diesen Rest nur flüchtig und ohne guten Willen zum adäquaten Referat. Gegen solche Defizite hilft auch das hastige Herumblättern und das zufällige Zitieren aus willkürlich aufgeschlagenen Büchern nicht - eben dies ist das Verfahren, das er in dem „Zeit“-Artikel an den Tag legt, um Kenntnisse vorzutäuschen. Alles, was der Autor des polemischen Artikels aus meinen Schriften anführt, sind typische Last-minute-Zitate; seine Kommentare sind durchwegs von enttäuschendem Niveau und meistens schon auf der simpelsten Verständnisebene falsch. Aus seinen Bemerkungen zu meinem Werk spricht allein eine moralisch relevante Tatsache: dass er zu desinteressiert, zu müde und zu humorlos ist, als dass er sich dem Anspruch meiner Arbeiten aussetzen könnte. Niemand hat ihn dazu gezwungen, über meine Bücher eine Meinung zu haben - aber wenn er eine solche äußern möchte, sollte er sie auf Grund von Kenntnissen vortragen und nicht unter dem Einfluss von automatischen Abwehrreflexen.
Ein letztes Wort zu dem von Ihnen geäußerten Wunsch, eine breite Debatte über den Gegensatz von „Professorenphilosophie“ und „literarischer Philosophie“ in Gang zu setzen: Dies könnte nur dann zu einer erhellenden Auseinandersetzung führen, wenn es den so bezeichneten Gegensatz wirklich gäbe. In Wahrheit, fürchte ich, existiert eine solche Front allein in der Einbildung von verständnislosen externen Beobachtern. Es gibt nur plausible und unplausible Argumente, kreatives und stagniertes Denken, mutige und feige Reflexion, großzügige und bornierte Gesinnung, interessante und langweilige Schreibweise. Es wäre verrückt zu glauben, solche Gegensätze hätten etwas mit dem „Gattungsunterschied“ zwischen akademischem und literarischem Theorie-Stil zu tun. Dies wäre eine Beleidigung für die guten Autoren auf beiden Seiten und ein Affront gegen die guten Leser hier wie dort. Nun urteilen Sie selbst, wo unser ziemlich boshafter und sehr leseschwacher Philosophieprofessor einzuordnen ist.
Was lernt man aus der ganzen Affäre? Ich denke: nichts, was nicht längst offenkundig war. Ich besitze seit längerer Zeit eine beachtliche Sammlung an Beispielen dafür, wie weit manche abgehängte Kollegen bei der Zurschaustellung ihrer Stagnation und Frustration zu gehen bereit sind. Nun hat unser unglücklicher Frankfurter Professor ein neues Beispiel hinzugefügt. Enthält es eine neue Information? Ich sehe keine, außer vielleicht dieser: So, wie es kein staatlich festlegbares Limit für die Gier von Finanzmanagern gibt, so gibt es auch keine legale Obergrenze für Giftkonzentrationen in glücklosen Philosophieprofessoren.
Peter Sloterdijk ist Rektor der Staatlichen Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe und lehrt dort Philosophie und Ästhetik. Von ihm erschien zuletzt „Du mußt dein Leben ändern: Über Anthropotechnik“ (2009).